ARCHIVALIA BALTICA ONLINE
Tartu/Dorpat zum Kulturhauptstadtjahr 2024
12. Ausgabe (Oktober 2024)
Das kirchliche Leben der deutschen Gemeinde St. Johannis in Dorpat war in den beiden letzten Jahrzehnten vor der Umsiedlung der Deutschbalten maßgeblich geprägt von dem Oberpastor Joseph Alexander Sedlatschek. Von ihm und seinem Wirken kündet ein kleiner Nachlass mit wenigen Papieren, der sich im Lüneburger Carl-Schirren-Archiv erhalten hat und hier erstmals vorgestellt werden soll.
Kindheit und Jugend in Kischinew, Studium und Ausbildung in Dorpat
Sedlatschek wurde 1889 in Kischinew (Bessarabien, heute Moldawien) geboren, sein Vater, ebenfalls Joseph Sedlatschek, war Musiklehrer und Dirigent, seine Mutter war Ernestine, geb. Schirach. Die Familie stammte vermutlich aus Böhmen oder Mähren. 1898–1908 besuchte er das Gymnasium seiner Heimatstadt, um dann von 1906 bis 1916 in Dorpat Theologie zu studieren. Im Nachlass befindet sich eine Bescheinigung der Musikschule der Kaiserlichen Musik-Gesellschaft in Kischinew von 1908, die belegt, dass Sedlatschek auch während seines Studiums in Dorpat mit seiner Heimatstadt Verbindung hielt. Er bestand die Konsistorialexamina in Reval im Dez. 1916. Anfang 1917 wirkte er für das Russische Rote Kreuz in einem Lazarett in Walk (Livland). 1917/18 absolvierte er sein Probejahr an der Johannis-Kirche in Dorpat, seiner späteren langjährigen Wirkungsstätte. Die Ordination erfolgte im Juni 1918 ebenfalls in Dorpat, wo er eine Anstellung als Vikar der deutschen Gemeinden Dorpats fand und vom Livländischen Konsistorium in Riga im Juli 1918 bestätigt wurde. Nach der Besetzung Dorpats durch die Bolschewiki wurde Sedlatschek im Jan. 1919 verhaftet, konnte aber nach einigen Tagen entkommen.
Sedlatscheks Wirken an der St. Johannis-Kirche in Dorpat, verschiedene Ehrungen und seine Verbindungen zu Bischof Jakob Kukk und zum orthodoxen Metropoliten Alexander Paulus
Im Dez. 1919 wurde er zum Oberpastor an der Johannis-Kirche berufen, vom Estnischen Konsistorium bestätigt und von Otto Seesemann (1866–1945), Alexander v. Bulmerincq (1868–1938) und Adalbert v. Stromberg (1880–1922) in sein Amt eingeführt. Zu Weihnachten 1926 erhielt er von der Johannis-Gemeinde mit Erlaubnis und Bestätigung des evangel.-lutherischen Bischofs von Estland Jakob Kukk (1870–1933) ein silbernes Brustkreuz als Geschenk. Mit Blick auf die ökumenische Situation im damaligen Estland darf als bedeutsam gelten, dass die Orthodoxe Kirche ihm das Erinnerungszeichen an Bischof Platon verliehen hat, das ihm im Jan. 1930 in der Uspenskij Kathedrale in Dorpat durch Alexander (Karlovič Paulus, 1872 nahe Pernau–1953 in Stockholm), Metropolit von Reval und ganz Estland, überreicht wurde. Daran knüpfte die Estnische Apostolische Orthodoxe Kirche im März 1940 an, als sie mit Blick auf die bevorstehende Umsiedlung Sedlatscheks in einer Ehrenurkunde diesem das Recht gewährte, den nach Bischof Platon II. benannten Orden ständig zu tragen (in estn. Sprache). 1928 veröffentlichten „dankbare Gemeindeglieder“ Predigten und Ansprachen Josef Sedlatscheks aus Anlass des zehnten Jahrestages seiner Ordination. 1929 trat Sedlatschek mit einer Schrift „Zum zehnten Jahrestag des 14. Januar 1919, dem Tag der Einweihung der Gedächtniskapelle im ‚Mordkeller‘ in Dorpat“ hervor.
Am 22. April 1940 beschloss die Generalversammlung des St. Johannis-Gesangvereins, „seinen hochverehrten Präses, Oberpastor Joseph Sedlatschek, in dankbarster Anerkennung und gerechter Würdigung seiner langjährigen wertvollen Verdienste um das Wohlergehen des Vereins zu seinem Ehrenpräses zu ernennen und ihm als Zeichen tiefster Verehrung ein entsprechendes Diplom zu überreichen.
Dorpat, im April 1940.“ (CSA 100 Sedlatschek 4.)
Seine Familie, die Umsiedlung der Deutschbalten 1939/1940 und die Flucht 1945
1920 hatte Sedlatschek in Dorpat seine Frau Gerda, geb. Reinbaum, geheiratet. Der Ehe entstammte die 1921 in Dorpat geborene Tochter Ernestine (Konfirmationsurkunde und Abschlusszeugnis: CSA 100 Sedlatschek 6).
Sedlatschek wohnte mit Frau und Tochter in Dorpat in der Ritterstraße (Rüütli) 20. Seine Frau und seine Tochter nahmen Ende Okt. 1939 an der Umsiedlung der Deutschbalten teil, während im Nachlass entsprechende Zeugnisse vorliegen, nach denen er selbst wohl aus dienstlichen Gründen noch bis in den April 1940 in Dorpat verblieb. Nach der Umsiedlung kam er zunächst nach Gdingen (Gotenhafen), wo am 27. Mai 1940 seine Einbürgerungsurkunde ausgestellt wurde. 1941–1945 war er Pfarrer in Schwersenz bei Posen, wo sein Vater und seine Schwester bei ihm im Pfarrhaus lebten, während seine Frau und Tochter in Posen wohnten und sich dort im Arbeitseinsatz befanden, Dementsprechend gingen die Familienmitglieder getrennt auf die Flucht: Während Sedlatschek mit Vater und Schwester an einem Treck nach Westen teilnahm und bis Ratzeburg kam, gelangten Frau und Tochter von Posen in den Kreis Ronneburg in Thüringen, so dass Sedlatschek mit Vater und Schwester nach Thüringen weiterfuhren. Dort erhielt er 1945 den Vertretungsdienst für die Pfarrstelle in Schmirchau bei Ronneburg. 1945–1949 erhielt er die Pfarrstelle in Paitzdorf ebenfalls bei Ronneburg, 1949–1954 in Bredelar (östliches Sauerland). Nach seiner Emeritierung zog Sedlatschek nach Frankfurt/Main, wo seine Tochter inzwischen ansässig geworden war. Er starb dort 1962.
Peter Wörster
Literatur:
Angelus, Oskar: Eestist Saksamaale ümberasunule nimestik. Verzeichnis der aus Estland nach Deutschland Umgesiedelten. Tallinn 1939, S. 176.
Lexikon deutschbaltischer Theologen seit 1920. Bearb. von Wilhelm Neander, 2. Aufl. Hannover 1988, bearb. von C. Helmut Intelmann, Nr. 588, S. 145.
Sedlatschek, Joseph Alexander: Walte, walte, Wort des Herrn! Zehn Predigten und zehn Ansprachen von Joseph Sedlatschek, Oberpastor zu St. Johannis-Dorpat, Estland, von dankbaren Gemeindegliedern zum zehnten Jahrestage der Ordination ihres Seelsorgers durch Drucklegung festgehalten. Dorpat 1928, 95 S. (vorh. in der Bibl. d. Herder-Instituts Marburg, Sign. 18/06305).
Sedlatschek, Joseph Alexander: Zum zehnten Jahrestag des 14. Januar 1919, dem Tag der Einweihung der Gedächtniskapelle im „Mordkeller“ in Dorpat. Dorpat 1929.
Soweit nicht anders angegeben, wurden die meisten Angaben den Dokumenten des Nachlasses (CSA 100 Sedlatschek 1-7) sowie den handgeschriebenen „Erinnerungen über die Zeit 1939–1948“ der Tochter Ernestine, verheiratete Haberzettl, (CSA 170 Manuskripte 464 [Xerokopie des Originals]) entnommen. Ernestine hatte im April 1941 in Posen den aus Wien stammenden Theodor Haberzettl geheiratet (vgl. Ostdeutscher Beobachter, Nr. 116 vom 27.4.1941, S. 14).
Weitere archivische Quellen zu Leben und Werk von Joseph Alexander Sedlatschek stehen der Forschung in den Personalakten zur Verfügung, die sich meist in den „Landeskirchlichen Archiven der Evangelischen Kirche“ befinden, zu denen die Gemeinden gehören bzw. gehörten, in denen Sedlatschek als Pfarrer wirkte, so etwa im „Landeskirchlichen Archiv der Evangelischen Kirche von Westfalen“ in Bielefeld wegen seiner letzten Pfarrstelle in Bredelar in den Jahren 1949 bis 1954 (Bestellsign.: 4.55 KK Soest, Nr. 1053).