ARCHIVALIA BALTICA ONLINE
5. Ausgabe (Dezember 2022)
Verlage und Buchhandlungen waren einst wie Schulen und Universitäten wichtige Institutionen des kulturellen und wissenschaftlichen Lebens einer Stadt, einer Region. Das gilt im historischen deutschen Sprachraum etwa für den (Bergstadt)Verlag Wilhelm Gottlieb Korn, gegründet 1732 in Breslau, und für Gräfe und Unzer, gegründet 1722 in Königsberg/Pr.
Kluge & Ströhm: Geschichte der Verlagsbuchhandlung aus Reval
In diesem Sinne gehört Kluge & Ströhm seit Anfang des 19. Jhs. zur Kulturgeschichte Revals, der Hauptstadt Estlands. Seinen Anfang nahm alles mit der Buchhandlung, die Georg Eggers 1813 in Reval gegründet hatte. Diese übernahm Franz Ferdinand Kluge (1809-1882) bereits in jungen Jahren in verschiedenen Etappen, bis er sie Eggers 1847 abkaufen konnte. Da hatte er sich schon mit seinem Schwager Carl Ströhm (1812-1888) zusammengetan, weshalb die Firma von da an den Namen Kluge & Ströhm führte. Carl Ströhm blieb bis 1885 Mitinhaber; seinen Anteil erbte sein Sohn Arthur Carl, der 1891 Adeline Weiss heiratete, eine Schwester von Robert Weiss (1863-1944), der mütterlicherseits als Erbe von Franz Ferdinand Kluge seit 1885 Mitinhaber der Firma wurde und bis zur Umsiedlung 1939 blieb, als dann schon sein Sohn Kurt (1898-1976) den Firmensitz nach Posen und nach der Flucht aus Posen nach Meine im Kr. Gifhorn (Niedersachsen) verlegte.
Ein Briefumschlag als Zeitzeugnis deutsch-baltischer Beziehungen
Das hier vorgestellte Dokument zeigt einen Briefumschlag von Kluge & Ströhm aus dem Jahre 1955 aus Meine, der zum Bestand CSA 204 Dtbalt.Landsmannschaft Lüneburg gehört und der daran erinnert, dass Kurt Weiss mit Deutschbalten und ihren Organisationen in Verbindung stand und sich mit dem guten Ruf und Bekanntheitsgrad seines einstigen Revaler Unternehmens als Buchhändler und Verleger auch in der Bundesrepublik etablierte. Kluge & Ströhm war 1953 Teil der aus vier Partnern bestehenden baltischen Verlagsgemeinschaft (zusammen mit E. Bruhns, Harro v. Hirschheydt und Wolf J. v. Kleist), die das erste "Jahrbuch des baltischen Deutschtums" in der Nachkriegszeit für das Jahr 1954 herausgab. Für die Ausgaben des Jahrbuchs 1955 bis 1957 war Kluge & Ströhm sogar der alleinige Kommissionsverlag für das Jahrbuch. Allerdings gelang es ihm nicht, die Firma langfristig zu konsolidieren. So wurde die Zeit in Meine zum letzten Kapitel der Firmengeschichte nach Umsiedlung und Flucht. Kurt Weiss musste 1957 aufgeben, das traditionsreiche Haus geschlossen werden.
Fortwirkende Resonanz in Estland: Stimmen von Jaan Kross u. Lennart Meri
Kluge & Ströhm galt in seiner Glanzzeit in den Jahrzehnten vor und nach dem Ersten Weltkrieg als beste Buchhandlung Estlands. Neben dem Buchhandel entwickelte sich die Verlagsproduktion in bemerkenswerter Weise. So erschienen vor allem Bücher zur baltischen Geschichte und Kultur, daneben Schulbücher und theologische Schriften. Bedeutende Gelehrte veröffentlichten hier ihre Arbeiten. Besonders erwähnenswert ist die Tatsache, dass Kluge & Ströhm auch die damals junge estnische Literatur dem deutschsprachigen Publikum in Übersetzungen vermittelte, wie etwa die Werke der estnischen Schriftsteller und Übersetzer Marie Under (1883-1980) und Friedebert Tuglas (1886-1971). Wichtig ist auch die Verbundenheit des bekannten estnischen Schriftstellers Jaan Kross (1920-2007) mit der Familie Weiss seit Ende der 1960er Jahre, die ihren Ursprung in der Zeit vor der Umsiedlung hatte und auf noch zu klärende Weise mit dem Unternehmen Kluge & Ströhm zusammenhing. Schließlich sei an den estnischen Staatspräsidenten Lennart Meri (1929-2006) erinnert, der 2004 seinen Nachruf auf den in Reval geborenen Journalisten Carl Gustaf Ströhm (1930-2004) mit einer Eloge auf Kluge & Ströhm verband.
Peter Wörster
Literaturhinweise:
Aule, Endel: Kluge ja Ströhmi raamatukaupluse ajaloost [Aus der Geschichte der Buchhandlung Kluge & Ströhm]. In: Keel ja Kirjandus, H. 1 (1970), S. 41-44, H. 3 (1970), S. 163-169 (Die Bibl. des Herder-Instituts in Marburg besitzt eine 1970 angefertigte dt. Übersetzung von Kurt Weiss).
Kaegbein, Paul: Kluge, Franz Ferdinand. In: Lexikon des gesamten Buchwesens, 2. Aufl., Bd. IV, Stuttgart 1995, S. 250.
Wörster, Peter: Zwischen Wissenschaft, Politik und Administration. Hellmuth Weiss als Wissenschaftler und letzter deutschbaltischer Landespolitiker. In: Balt. Politiker, Historiker u. Publizisten des 20. Jhs. Hrsg. von Norbert Angermann, Detlef Henning u. Wilhelm Lenz (+). Balt. Biogr. Forsch., Bd. 2, S. 95-117, Münster 2021 (Schriften d. Balt. Hist. Komm., Bd. 25).