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Eine „Burschenbibel“ aus Dorpat des „Estonen“ Eugen Filaretow (1872–1938)

ARCHIVALIA BALTICA ONLINE

Tartu/Dorpat zum Kulturhauptstadtjahr 2024

10. Ausgabe (Juni 2024)


Burschenbibeln allgemein, wie Heinrich Bosse und Arthur Poelchau sie sahen

Einband der Burschenbibel von Eugen Filaretow (Signatur: CSA 121 Estonia 106)
Burschenbibel von Eugen Filaretow (Signatur: CSA 121 Estonia 106)

Was ist eine Burschenbibel? Darauf gab der deutschbaltische Autor Heinrich Bosse in seiner 1862 in Dorpat anonym erschienenen Schrift „Skizzen aus Dorpat. Von einem alten Dorpater Studenten“ folgende Antwort: „Eine Burschenbibel ist eine Art Stammbuch, wie es ein jeder Landsmann einer Corporation besitzt, in welches seine übrigen Corpsbrüder ihm zum getreuen Andenken ein Lied, einen Spruch, ein paar herzliche Worte, mit ihrem Namen unterzeichnet, hineinschreiben.“ Wozu ein Stammbuch solcher Art nützlich sein sollte, charakterisiert treffend der deutschbaltische Historiker und Dichter Arthur Poelchau (1845-1919):


Die Burschenbibel


Nimmst Du in späten Tagen

Die Bibel einst zur Hand,

Soll jedes Blatt Dir sagen

Von der Zeit, die im Kreise

Der Freunde Du verbracht,

In flotter Burschenweise

Gezecht, gescherzt, gelacht.


Und liest Du dann die Namen

Der Freunde, die darin,

fragst sinnend Du: wo kamen

Sie alle, alle hin?

Sie sind zerstreut, getrieben

Nach Norden und nach Süd.


Du bist allein geblieben

Die Jugendzeit verblüht!

Dann denkst Du jener Stunden

und träumest Dich hinein

In Zeiten, schön entschwunden

Mit Freunden und beim Wein,

Wo Du so jung und fröhlich

Gelebt in Jugendglück,

Und schaust still lächelnd, selig

Auf jene Zeit zurück.


Dann tauchet ungetrübet

Herauf der Freunde Bild

Die Du, die Dich geliebet,

Und strahlet lieblich mild.

Grüß’ dann das Bild und wahre

Dir ewig jung und neu

Ein Herz, das bis zur Bahre

In Lieb’ dem Freunde treu.


(Zitiert nach: EEVA.)


So richtig es ist, Burschenbibeln in die Nähe der Gattung „Stammbuch“ zu stellen, so wichtig erscheint es aber auch festzuhalten, dass sie mehr als nur Stammbücher sind und, sehr individuell gestaltet, oft sehr unterschiedliche Inhalte aufweisen – je nach den Vorlieben und Interessen der Corpsbrüder. Dies läßt sich gerade im Hinblick auf die baltische Überlieferung im Carl-Schirren-Archiv in Lüneburg nachweisen, verfügt dieses Archiv doch über eine sehr große Anzahl von Burschenbibeln aus den Ostseeprovinzen des Russischen Reiches und damit über erkenntnisfördernde Vergleichsmöglichkeiten. Diese große Anzahl kam im CSA zusammen, weil viele Philisterverbände der deutschbaltischen studentischen Verbindungen seit den 1970er Jahren ihre Archivbestände nach Lüneburg gegeben hatten, teils als Geschenk, teils als Depositum. Das CSA verfügt damit über die umfangreichsten Bestände zu den Verbindungen außerhalb der Archive in Estland und Lettland. Diese bestehen sehr oft aus Nachlässen von Corpsbrüdern, die ihre Materialien über alle Brüche und Umbrüche des 20. Jhs. hinweg bewahren konnten und diese noch zu Lebzeiten selbst oder durch Ihre Erben den jeweiligen Philisterverbänden oder direkt dem CSA übergeben haben. Dazu gehören eben auch Burschenbibeln in größerer Zahl.


Um an einem Beispiel aus Dorpat zu verdeutlichen, was in einer solchen Burschenbibel alles enthalten sein kann, soll hier das Exemplar des der Estonia angehörenden Oberlehrers Eugen Filaretow näher vorgestellt werden (Format des Bandes: 19 x 23 x 5,5 cm).


Eugen Filaretow – Bursche, Philister, Pädagoge in Dorpat und Mitau,

Sekretär der Gelehrten Estnischen Gesellschaft

Im Garten des Coventsquartiers: (stehend) Robert Harder, Hermann Pezold, Johannes Beermann, Walter Pezold, (sitzend) Eugen Filaretow, Wolfgang Hoffmann, Ralf Bätze, Eugen Clever, Walter Paucker (Signatur: CSA 121 Estonia 106, 235r)
Im C!Q!-Garten: (stehend) Robert Harder, Hermann Pezold, Johannes Beermann, Walter Pezold, (sitzend) Eugen Filaretow, Wolfgang Hoffmann, Ralf Bätze, Eugen Clever, Walter Paucker (Signatur: CSA 121 Estonia 106, 235r)

Eugen Filaretow wurde 1872 in Pernau geboren. Sein Vater war der russische Schneidermeister Nikifor Filaretow, seine Mutter die Deutsche Anna Maurer. Nach der Gymnasialzeit in Pernau arbeitete er als Hauslehrer im Gouvernement Estland. 1893 begann er ein Studium der alten Sprachen in Dorpat. 1895 wurde er Mitglied der Estonia. Von 1901 bis 1910 unterrichtete er alte Sprachen an der v. Zeddelmannschen Privatschule in Dorpat, nach dem Oberlehrerexamen auch am Dorpater Gouvernements-Gymnasium. 1902 bis 1910 engagierte er sich ehrenamtlich als Sekretär der Gelehrten Estnischen Gesellschaft. 1910 verließ er Dorpat und wurde Lehrer am Kurländischen Landesgymnasium in Mitau, 1915 bis 1918 arbeitete er als Lehrer in Finnland, 1918/19 wieder in Mitau, 1919/21 als Hauslehrer bei der Familie v. Dohna auf Schloß Schlobitten in Ostpreußen. Seit 1921 war er bis zu seinem in Riga erfolgten Tod 1938 als Oberlehrer in Mitau und Präses des dortigen Deutsch-baltischen Lehrerverbandes tätig. Mit Dorpat blieb er als Mitglied der Gelehrten Estnischen Gesellschaft und durch gelegentliche Besuche verbunden. 1915 hatte er in Mitau Hedwig Bonwetsch geheiratet, die Tochter eines anderen Gymnasialprofessors in Mitau. Die Familie hatte drei Kinder: Lucy Benedikta Irene, geb. 5.9.1921, Georg Eugen, geb. 22.10.1923, und Christian Dietrich Vitalij, geb. 24.12.1927. Alle Kinder sind in Mitau geboren. Die Witwe Hedwig Filaretow lebte mit ihnen bis zur Umsiedlung im Nov. 1939 in Mitau, nach 1945 in Göttingen.


Der Inhalt der Burschenbibel von Eugen Filaretow


Fotografie einer Ausfahrt „zum Mollatz-Commers“ im Mai 1910 (Signatur: CSA 121 Estonia 106, 280r)
„Fahrt zum Mollatz-Commers 1910. (Mein letzter Commers.) (Vor Rathshof.)“ (Signatur: CSA 121 Estonia 106, 280r)

Filaretow hat – wie unter den Corpsbrüdern üblich – seine Bibel selbst zusammengestellt und alle Photos akribisch beschriftet, so dass nur in wenigen Fällen nicht notiert wurde, wer auf den Photos abgebildet ist. Filaretow bezog die Universität Dorpat 1896 im Fach alte Sprachen. Die Burschenbibel setzt 1897 nach dem Beginn des Studiums ein und endet erst nach seinem Tod 1938. Todesanzeigen für und Nachrufe auf ihn sowie Unterlagen von späteren Stiftungsfesten der Estonia aus den 1950er und 1960er Jahren, die meist im Hause der Teutonia in Marburg stattfanden, schließen den Band ab. Es ist anzunehmen, dass Filaretows Burschenbibel von seiner Familie oder einem Erben aus der Philisterschaft „angereichert“ wurde.


Ein Eintrag des Juristen Roman v. Antropoff

An einem Beispiel aus der vorliegenden Burschenbibel läßt sich zeigen, wie sich der Inhaber um Eintragungen ihm wichtiger Persönlichkeiten bemühte: Der Jurist Roman v. Antropoff (* Reval 1836, † Uxnorm/Estland 1926), schrieb im Nov. 1906 an den Philister Filaretow: „Ihre Bibel habe ich bis dato nicht zu Gesicht bekommen; daher die Verzögerung in der Erfüllung Ihres Wunsches. Nun übersende ich Ihnen das Poem [in griechischer Sprache] und bitte, mich in guter Erinnerung zu behalten. Mit bestem Gruß, Ihr Antropoff [Bl.74-75; vgl. DBBL S. 16].



Hervorzuheben ist, dass die Burschenbibel von Eugen Filaretow eine umfassende Mischung unterschiedlichster Dokumente enthält, zu denen auch Photographien aus dem letzten Jahrzehnt des 19. und den ersten zehn Jahren des 20. Jhs. meist aus Dorpat und Umgebung gehören, dazu sehr frühe Ansichtspostkarten koloriert und in s/w. Gerade die Originalphotos von Personen und Personengruppen und von Gebäuden zeichnen ein Kulturbild vom damaligen Leben in Dorpat und vor allem vom Leben in und mit der Corporation.


Festprogramm zum Jubiläum der Estonia 1921 (Signatur: CSA 121 Estonia 106, 12r)
Festprogramm zum Jubiläum der Estonia 1921 (Signatur: CSA 121 Estonia 106, 12r)

An dieser Stelle kann auf den Inhalt der Burschenbibel nicht näher eingegangen werden. Allgemein sei hier nur erwähnt, dass die Stiftungsfeste des eigenen Corps, erst recht die großen Stiftungsjubiläen (bei der Estonia 1896 das 75. und 1921 das 100. Jubiläum) sowie besondere Jahrestage etwa der Convents-Quartiere sowie die regelmäßigen Commerse durch die Einladungsschreiben – zum Teil in gedruckter und künstlerisch gestalteter Form – und mehr oder weniger ausführlich durch Hinweise auf die jeweiligen Programme gut dokumentiert sind. Nicht selten fanden im Convents-Quartier der Estonia auch Stiftungsfeste und Jubiläen anderer Corporationen wie etwa der Curonia oder der Livonia statt.


Bemerkenswert sind die überaus zahlreichen literarischen Werke wie auch Gelegenheitsdichtungen, zu denen ganze Theaterstücke gehören, von den Corpsbrüdern selbst geschrieben und auf die Bühne gebracht. Man könnte von einem besonderen Genre „Fuchstheater“ sprechen. Auch kleine Karikaturen und comic-ähnliche Zeichnungen, die oft eine Geschichte erzählen, bereichern den kulturgeschichtlichen Wert einer „Burschenbibel“. Im Falle der baltischen Corporation Livonia hat man solche Werke in Auswahl als „Livonendichtung im Zeitenwandel von über 100 Jahren, vorgetragen aus Burschenbibeln zum 160. Stiftungsfest am 18. Sept. 1982 in Marburg“ zusammengestellt und 1987 in München herausgegeben.


Seite Titelblatt „Fuchstheater“ (CSA 121 Estonia 106, 112r)
Fuchstheater (CSA 121 Estonia 106, 112r)

Abschließend sei darauf hingewiesen, dass eine Burschenbibel meistens auch Informationen über den Inhaber selbst enthält. Im vorliegenden Falle etwa in Form von Presseberichten über das ehrenamtliche Wirken Eugen Filaretows als Sekretär der Gelehrten Estnischen Gesellschaft und Vorträge, die er dort gehalten hat, sowie sein Wirken für den Dorpater Handwerkerverein. Dokumentarisch wertvoll sind auch Artikel bzw. Gelegenheitsdichtungen z.B. über seinen Wechsel von Dorpat nach Mitau 1910 sowie zahlreiche Todesanzeigen und Nachrufe auf ihn aus Zeitungen in Reval, Dorpat, Riga und Mitau 1938.


Die Burschenbibel von Eugen Filaretow wurde aus gegebenem Anlaß inhaltlich detailliert erschlossen. Diese Angaben stehen Forschern im Carl-Schirren-Archiv zur Verfügung.


Peter Wörster


Literatur

Album Estonorum. Vierte Auflage. Hrsg. vom Philisterverbande der Estonia. Tallinn 1939, S. 354, lfd. Nr. 1043.

[Bosse, Heinrich:] Skizzen aus Dorpat. Von einem alten Dorpater Studenten. Dorpat 1862.

Hümmer, Hans Peter: Corpsstudenten im Zarenreiche. Die Burschenbibel des stud. med. [Johannes] Bienemann [*1829] Curonus Dorpatensis 1851-1856. In: Einst und jetzt. Zeitschrift des Vereins für corpsstudentische Geschichtsschreibung, 54. Bd. (2009), S. 137-218.

Umsiedlerverzeichnis: Izceļojušo vācu tautības pilsoņu saraksts. Ziņas par personām izceļojušas saskaņā ar līgumu par vācu tautibas Latvijas pilsoņu pārvietošanu uz Vāciju [Verzeichnis lettischer Staatsangehöriger deutschen Volkstums, die sich 1939 entschieden haben, nach Deutschland umzusiedeln]. (Lik. Kr. 1939. G. 176). [Riga] 1940., S. 360, Nr. 9565-9568.

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