Was der russische Krieg in der Ukraine für die Geschichtsschreibung zum Baltikum bedeutet
Lüneburg, Rathaus, 25. September 2022
Meine Damen und Herren,
der brutale Angriffskrieg der Russländischen Föderation gegen die Ukraine, ich stimme der Oberbürgermeisterin hier völlig zu, geht uns alle etwas an. Mich, der ich in einem direkten Nachbarland Russlands, in Estland lebe, aber auch Sie hier in Lüneburg, das geographisch von den Kriegsschauplätzen genauso weit entfernt liegt wie meine derzeitige Heimat in Tallinn. Wer das Privileg hat Russisch zu verstehen und sich in den letzten 15 Jahren hin und wieder einmal dem russischen Staatsfernsehen ausgesetzt hat weiß, dass der derzeitige Krieg propagandistisch lange vorbereitet wurde und ein Krieg gegen alles ist, was die liberale Demokratie ausmacht. Es ist ein Krieg gegen uns alle.
Aber ich werde nicht über den Krieg sprechen. Für die Geschichtswissenschaft sind Kriege beliebte Forschungsobjekte, kein Zweifel. Üblicherweise beginnt die Forschungsarbeit jedoch erst lange, nachdem die Waffen schweigen. In der modernen Medienwelt nehmen wir jedoch auch zu laufenden Kriegen Stellung. Dabei kann es nicht immer nur um Analyse gehen. Wer meinen Kollegen, den Osteuropahistoriker Karl Schlögel Ende Februar 2022 bei Anne Will gesehen hat, weiß, wie nahe einem ein Krieg in „seinem“ Forschungsgebiet gehen kann.
Im Rahmen der Zeit, die mir hier zur Verfügung steht, möchte ich Sie mitnehmen auf eine zum Teil auch sehr persönliche Reise in den Osten. In deren Verlauf wird es nach einem knappen Einblick in meine eigene Beziehungsgeschichte mit Russland um eine kritische Bestandsaufnahme der historischen Forschung zur Frage der russisch-baltischen Beziehungen gehen. Abschließend möchte ich in einem dritten Schritt thesenartig Überlegungen darüber anstellen, inwieweit der aktuelle russische Vernichtungskrieg gegen die Ukraine diese historische Forschung beeinflussen wird bzw. bereits beeinflusst.
I.
Geschichtsschreibung, meine Damen und Herren, unterliegt immer auch den Zeitläuften, in denen sie entsteht, aber eben auch den persönlichen Maßstäben, individuellen Interessen und eigenen Erfahrungen derjenigen, die sie produzieren. Daher möchte ich mit mir selbst beginnen. Ich bin mir zum einen allerdings sicher, dass viele meiner Kolleginnen und Kollegen im Bereich der Osteuropawissenschaften, die meiner Generation angehören (also der in den 1960er und 1970er Jahren Geborenen), Ähnliches von sich berichten würden. Es ist ja kein Wunder, dass unter uns, unter denjenigen, die die Region Osteuropa, ihre Kulturen und Sprachen gut kennen, wohl derzeit niemand zu finden ist, der bei aller Hoffnung auf Frieden für einen sofortigen Waffenstillstand eintreten würde. Wir wissen, warum wir so denken. – Zum anderen ist eine knappe Vorstellung des eigenen intellektuellen Werdegangs auch in der seriösen Wissenschaft seit einigen Jahren unabdingbar geworden, um eigene Positionen und mögliche Vorprägungen deutlich zu machen. Aus der Anthropologie hat sich diese Form der individuellen Rahmensetzung für die eigene Forschung auch in andere Geistes- und Sozialwissenschaften verbreitet. Nur so ist wissenschaftliche Debatte heute denkbar.
Ich bin Teil der bereits erwähnten Perestroika-Generation. Zwar war ich bereits als Neuntklässler im Herbst 1981 das erste Mal in der Sowjetunion – dreieinhalb Jahre bevor Michail Gorbačev im März 1985 Generalsekretär der KPdSU wurde. Doch habe ich im Ergebnis dieser ersten Schülerreise an meinem kleinen Gymnasium im Westen Hamburgs Russisch als dritte Fremdsprache gewählt. Die Jahre 1988 bis 1991, die Jahre der Perestroika, wurden prägend für meinen eigenen Enthusiasmus hinsichtlich der Beschäftigung mit russischer bzw. sowjetischer Kultur und Geschichte, denn damals konnte ich als Student viele Monate in verschiedenen Regionen der Sowjetunion verbringen. Es war ein Land im Aufbruch, voller Neugier und Offenheit und nahezu ohne Tabus. Damals war ich auch häufiger im Baltikum, wo mich dieselbe Offenheit empfing, die aber von einem Geist des bewusst separaten Aufbruchs begleitet wurde. Die Stimmung war anders dort und durchaus zuweilen verstörend. Als ich Anfang Oktober 1988 in der Tallinner Altstadt den Fackelmarsch aus Anlass der Gründung der estnischen Volksfront sah, begleitet von singenden Menschen in Volkstracht, war die einzige historische Assoziation, die sich mir Hamburger Geschichtsstudenten aufdrang, der 30. Januar 1933. Wie falsch ich damit lag, lernte ich dank zahlreicher persönlicher Kontakte in den Folgejahren, in denen im Baltikum trotz wirtschaftlicher Krisen drei demokratische Nationalstaaten entstanden, während Russland ökonomisch zusammenbrach und der demokratische Aufbruch der Perestroika-Ära langsam aber stetig versiegte. Präsident Boris El’cins Aura als Hoffnungsträger der Demokraten konnte kaum verhehlen, dass in der Realität die Vertikale der Macht stark von Generälen und zunehmend von Oligarchen kontrolliert wurde. Und mit Putins Aufstieg seit 1999 kamen die Geheimdienstler hinzu. Schon unter Jelzin hatten die Tschetschenienkriege Gewalt als politisches Mittel der russischen Innenpolitik legitimiert. Unter Putin wurde der Protest dagegen vollends kriminalisiert (ich erinnere nur an die Ermordung der Journalistin und Menschenrechtsaktivistin Anna Politkovskaja, die 2006 ermordet wurde).
In den 1990er Jahren war ich wiederholt in Tallinn, Moskau und St. Petersburg, um in den Archiven und Bibliotheken für meine Doktorarbeit zu forschen. Mein Thema war die Gründung der Republik Estland im Kontext der russischen Revolutionskriege der Jahre 1917 bis 1920. Überall war man hilfsbereit. Auch in Moskau wurde meine Arbeit zu einem Thema, das zu weit in der Vergangenheit lag, um als sensibel zu gelten, nicht behindert, im Gegenteil. Als im Dezember 1994 der Tschetschenienkrieg ausbrach, wurden alle Archive geschlossen. Mich jedoch lotste die Archivmitarbeiterin Ljudmila Petrovna an den bewaffneten Wachen vorbei und ließ mich weiterarbeiten. Aber während in Estland die alte neue nationale Normalität Einzug hielt, versank Moskau im post-kolonialen Chaos. Zwar hatte sich das Armageddon, die imperiale Apokalypse der Sezessionskriege der Jahre nach 1917 hier nicht wiederholt – nur in Transnistrien saßen russische Truppen in einem Teil der ehemaligen Sowjetrepublik Moldau ohne Anstalten zu machen sich zurückzuziehen. Zugleich jedoch starrte das konsternierte Europa auf das sich selbst zerfleischende post-kommunistische Jugoslawien. Der Zerfall der UdSSR erschien demgegenüber als ein kontrollierter und weitgehend friedlicher Prozess.
Im Jahre 1991 schrieb der russische Schriftsteller Anatolij Pristavkin die folgenden sehnsuchtsvollen Zeilen über das Baltikum als eine Art bessere Welt: „Wer aus der Moskauer Hölle in diese vom Zerfall noch nicht berührte Welt der stillen sauberen Häuschen, der gelben Dünen, der Windflüchter, der krummen Strandkiefern, entkommt, spürt auf einmal verwundert, wie in den fernen Winkeln der abgetöteten Seele, die keine Eindrücke mehr aufnehmen kann, eine ungreifbare beruhigende Melodie erklingt, die sich nicht mit Worten unterlegen läßt. Wenn man es versuchen wollte, käme so etwas heraus: ‚Liebes stilles Baltikum … Liebes, friedliches … stilles, stilles Baltikum …’“[1] Ich erinnere meine Studenten in Tallinn gern daran, dass Ende Januar 1991 in Moskau 100.000 Menschen für die Unabhängigkeit Estlands, Lettlands und Litauens demonstrierten. Dieses „stille Baltikum“ machte sich in der Folge auf nach Europa und gelangte zu Beginn des 21. Jahrhunderts in die EU und die NATO.
„Normal“ oder „still“ war Russland nie. Das machte vielleicht auch dessen Faszination als Forschungsgebiet aus. Imperiale Expansion, radikale Umbrüche, innere Kolonisation und Gewaltherrschaft wurden begleitet von avantgardistischen kulturellen Expressionen, gesellschaftlichen Utopien und interessanten Menschen. Tagebücher aus den 1930er Jahren, die die Archivrevolution der 1990er zutage führte, machten deutlich, wie wenig das Totalitarismusmodell, das die Gesellschaft nur als Objekt eines gewaltsamen Staates sieht, geeignet ist, um soziale Realitäten im Sozialismus zu erklären. Während die öffentliche Diskussion um den Stalinismus in den 1990er Jahren in Russland allmählich versiegte, debattierten Fachleute immer noch leidenschaftlich und gern auch mit westlichen Kolleginnen und Kollegen. Trotz des alltäglich stärker spürbaren Abdriftens in vertraute, autoritäre Gleise blieb Russland auch damals für uns noch lebendig und spannend. Unter Putin kehrte dann oberflächliche Ruhe und Stabilität in Russland ein, während das Regime nicht nur sukzessive die Meinungsfreiheit einschränkte, sondern zugleich seine Gewaltbereitschaft zeigte, wenn auch zunächst nur im Inneren: der zweite Tschetschenienkrieg war Beweis genug.
Von 2002-2005 lebte und arbeitete ich als Stipendiat der Bosch-Stiftung im estnischen Narva, mit Blick über den Grenzfluss auf die Russländische Föderation. Meine Umgebung war russischsprachig, aber doch diesseits der Grenze. Von heute aus betrachtet war das sicher eine gute, eine nachhaltigere Wahl als etwa nach Russland zu gehen (Möglichkeiten hätte es gegeben). Seitdem ich 2008 zum Professor der Universität Tallinn berufen wurde, lebe ich dauerhaft in Estland, spreche die Landessprache, blieb aber – zuletzt 2019 – regelmäßiger Besucher in Russland. Mein Blick auf das Land hat seither eine andere Perspektive eingenommen. 2014, nach der russischen Annexion der Krim, diskutierte ich mit einem deutschen Kollegen zum ersten Mal die Möglichkeiten, wie wir uns und unsere Familien im Falle eines russischen Angriffs retten könnten. Nach dem 24. Februar dieses Jahres mussten meine deutschen Freunde, die im Gegensatz zu mir in Russland lebten und arbeiten, tatsächlich fliehen.
Das Baltikum hat bekanntlich seine eigene Geschichte mit dem großen „Ostnachbar“, wie Russland im Estnischen gerne genannt wird. Diese Geschichte wurde spätestens 2014 mit der Krim-Annexion wieder virulent. In der Presse der baltischen Staaten weckte dies Erinnerungen an die sowjetische Okkupation und Annexion im Jahre 1940. Für die meisten Beobachter an der Ostküste der Ostsee kamen die Ereignisse auf der Krim und im Osten der Ukraine vielleicht unerwartet, aber sie überraschten niemand. Im Westen war das anders.
Was will ich mit dieser persönlichen Einleitung sagen? Gewiss will ich Ihnen damit zeigen, dass ich durchaus über die Kompetenzen verfüge, mich zu diesen Fragen zu äußern. Die deutsche (eigentlich: westdeutsche) Perestroika-Generation hat einen langen Weg hinter sich, der, ausgehend von der Faszination des Fremden, in eine in vielerlei Hinsicht sympathisierende, ja zuweilen intime Auseinandersetzung mit dem Studienobjekt Russland mündete. Wir alle sind aber früher oder später desillusioniert worden. Nicht in allen unseren persönlichen Beziehungen, zumal zahlreiche „unserer“ Russinnen und Russen mittlerweile außerhalb ihrer Heimat leben. Bei aller Skepsis gegenüber Putin von Beginn an sind wir zugleich Zeuge geworden, als viele unser russischen Bekannten just in den Nullerjahren in Ämter und Funktionen an den akademischen Institutionen traten und uns nun persönlich in vielerlei Hinsicht in den Archiven und Bibliotheken beistehen konnten. Noch 2015 hat ein guter Freund von mir, ebenfalls Historiker, in einem vollbesetzten Moskauer Restaurant über Putins Krim-Annexion lautstark herziehen können ohne die geringste Reaktion hervorzurufen. Heute ist er in seinen knappen Nachrichten an mich extrem wortkarg geworden. Als stellvertretender Institutsleiter muss er sich zurückhalten.
Wenn sie es genauer wissen wollen – bei aller Sensibilität für die Realitäten unter Putins Diktatur haben nur die wenigsten von uns im Februar dieses Jahres wirklich damit gerechnet, dass er seine Armee in die Ukraine einmarschieren lässt. Der Schock über die Absurdität dieses Bruderkrieges mit seiner idiosynkratrischen, geschichtspolitisch aufgeladenen und national-orthodox verbrämten Pseudo-Legitimation sitzt immer noch tief. Die Aufarbeitung unserer eigenen Sicht schließt auch die Frage ein, ob wir uns mit unserer grundsätzlichen Russophilie nicht selbst geblendet haben. Denn auch wir haben in unserer intellektuellen Blase gelebt, in der akademischen Welt Moskaus und Petersburgs mit vielen Freunden, die mittlerweile weit gereist und auslandserfahren genug waren, um dem Putinismus zu widerstehen. Zugleich haben sich zumindest einige von uns auch immer schon mit der nicht-russischen Peripherie des Sowjetimperiums beschäftigt. Der eine mit Georgien, die andere mit der Ukraine, wieder andere mit den baltischen Staaten. Der dortigen Bereitschaft, den Russen alles zuzutrauen, sind wir oft differenzierend entgegengetreten. Bis zum 24. Februar 2022.
II.
Von hier aus möchte ich überleiten zum zweiten Teil meines Vortrages, der Geschichtsschreibung. Ohne mich in allzu akademische Details zu verlieren, werde ich mich dabei auf einen speziellen Bereich beschränken, nämlich auf denjenigen, der im Zuge der Diskussion über die Zukunft der internationalen Osteuropaforschung nach dem 24. Februar relevant geworden ist: Die Rolle, die Russland bzw. die Sowjetunion in unseren Arbeiten spielen. Durch die gesamte Osteuropaforschung – wozu ja auch die baltische Geschichte gehört – hallen zurzeit weltweit laute Rufe nach einer „Dekolonialisierung“. Gemeint ist damit in erster Linie ein Hinterfragen der oft quellenbedingten Übernahme zentraler Perspektiven russischer Machtapparate in der Forschung. Bei aller Sensibilität für den Vielvölkercharakter sowohl des Zaren- als auch des Sowjetreiches fokussieren die meisten relevanten Arbeiten in der Tat auf das russische Zentrum. Hinweise auf Entwicklungen in Sibirien, Zentralasien, dem Kaukasus oder eben dem Baltikum werden in Gesamtdarstellungen pflichtschuldigst geliefert, aber doch nur, wenn sie sich in die Erzählung einfügen. Natürlich liegt das auch an den sprachlichen Voraussetzungen. Welcher Experte, welche Expertin kann schon Armenisch, Kirgisisch oder auch nur Belarussisch? Von Estnisch, Lettisch oder Litauisch ganz zu schweigen.
Wenn somit die Osteuropaforschung insgesamt ihren Russlandfokus nicht leugnen kann – wie sieht es im engeren Bereich der Baltikumforschung aus? Auch hier stößt man auf das Problem der Sprachen. Wer z.B. über die Jahre 1918 bis 1920 arbeiten möchte, die prägenden Jahre der Staatsgründungen, müsste idealerweise nicht nur die drei Staatssprachen, sondern mindestens auch noch Polnisch, Russisch und Deutsch beherrschen. Schon aus diesem Grunde ist es verständlich, dass sich die nationalen Historiographien selbst so wenig mit der Geschichte (und den Sprachen) ihrer baltischen Nachbarn beschäftigen. Wesentlich sind die Sprachen der jeweiligen regionalen Vormächte – z.B. das Schwedische für das 17. Jahrhundert und für die frühere Zeit das Lateinische, Mittelniederdeutsche, Altbelarussische und Altkirchenslawische. Das hat logischerweise Auswirkungen auf die Ausrichtung der jeweiligen nationalen Historiographien.
Nun wird man sich im Baltikum nicht gerne den Schuh der verlangten „Dekolonialisierung“ anziehen wollen. Denn was soll bitteschön an der eigenen Geschichtsschreibung „kolonial“ sein? War man nicht immer „post-kolonial“? Tatsächlich wird man bereits aus den 1950er Jahren publizistische Arbeiten baltischer Autoren aus dem Exil in Westeuropa und Nordamerika finden, in denen der „Sowjetkolonialismus“ angeprangert wird (ein Begriff, den die internationale Sowjetforschung damals noch mied). Ende der 1980er Jahre publizierte der Exillette Andrejs Urzde bei Rowohlt einen Sammelband unter dem Titel „Das Ende des Sowjetkolonialismus?“ Eine zu milde Sicht der russischen Regime, sei es zur Zarenzeit oder sei es in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts, wird man in Schriften baltischer Historikerinnen und Historiker tatsächlich kaum finden, schon gar nicht in der Geschichtsschreibung seit 1991.
Seit 1991 ist viel über die jeweils eigene Geschichte unter der Sowjetmacht gearbeitet worden. Die Dokumentation und Schritt für Schritt auch die Analyse stalinistischer Gewaltverbrechen in den 1940er Jahren stand dabei stets im Mittelpunkt der wissenschaftlichen Auseinandersetzung – und so ist es in allen drei Ländern im Grunde bis heute. Die sowjetischen Deportationen der Jahre 1941 und 1949, die Liquidierung der staatlichen Eliten der baltischen Staaten der Zwischenkriegszeit, der Kampf gegen die so genannten „Waldbrüder“, der vor allem in Litauen eine Intensität erreichte, die an die Nachkriegs-Partisanenkämpfe in der West-Ukraine heranreichte, und schließlich auch die Kollektivierung der Landwirtschaft: all dies konnte – durchaus auch mit umfangreichen Studien in russischen Archiven – belegt und dokumentiert werden. Die Begründung von speziellen Institutionen und Museen zum Thema der stalinistischen Gewaltgeschichte, die sich im 21. Jahrhundert auch für Studien zur nationalsozialistischen Terrorherrschaft und zum Holocaust öffneten, stellen das Fundament der staatlichen Geschichtspolitiken hinsichtlich des 20. Jahrhunderts dar.
Es sind nationale Geschichten, die hier geschrieben werden, Opfergeschichten, um es genauer zu sagen. Der Blick über die eigene Grenze, zu den baltischen Nachbarn, findet oft höchstens einmal in englischsprachigen Sammelbänden statt, wobei in der Regel über das jeweils eigene Land geschrieben wird. Das Fehlen vergleichender Arbeiten bleibt dabei eklatant. Dass Deportationen in den 1940er Jahren zeitgleich nicht nur in allen drei baltischen Sowjetrepubliken, sondern auch in der West-Ukraine und Moldau stattfanden, wird höchstens einmal am Rande erwähnt. Zugleich sei eingeräumt, dass sich auch generelle Arbeiten der internationalen Forschung zum stalinistischen Terror kaum einmal mit dem beschäftigen, was an der nicht-russischen Peripherie stattfand. Eine gesamtsowjetische Geschichte des Terrors der 1930er und 1940er Jahre ist und bleibt ein Desiderat, aber eben auch ein schon sprachlich extrem aufwändiges Unternehmen.
Aber bleiben wir bei der Frage, ob es auch in der klassischen baltischen Geschichtsforschung hinsichtlich Russlands ein „koloniales“ Erbe gibt. Schaut man genau hin, erkennt man, wie sehr auch hier der Fokus auf den Beziehungen der Regierungen in St. Petersburg oder Moskau zu der jeweils eigenen, mit ethischen Kriterien identifizierten Peripherie liegt. Kaum einmal wird der jeweilige imperiale Kontext zur Analyse herangezogen, also ein Vergleich mit der zentralen Politik hinsichtlich anderer Randgebiete, stets bleibt es bei der Achse Zentrum – nationale Peripherie. Auch hier mag als Erklärung neben dem vermuteten Interesse des Publikums an Geschichte im nationalen Rahmen der Verweis auf die linguistischen Schwierigkeiten genügen. Um Ihnen ein Beispiel zu geben: Der litauische Historiker Saulius Grybkauskas hat kürzlich ein Buch veröffentlicht, in dem es um eine bestimmte Position in den Parteihierarchien der sowjetischen Republiken, den zweiten Parteisekretär, geht. Dafür hat er sich intensiv mit der litauischsprachigen Überlieferung in litauischen Archiven beschäftigt, muss sich aber für alle anderen Regionen des Landes, sieht man einmal von der Lettischen SSR ab, auf russischsprachige Texte verlassen. Auf diese Weise bleibt das Narrativ der Moskauer Zentrale auch in seinem Buch dominierend, was keine Kritik sein soll, da auch dies neue Erkenntnisse liefert, aber doch die Reichweiten historischer Forschung illustriert.
Zudem stellt Grybkauskas’ Buch die Ausnahme von der Regel dar, dass sich gerade die Kolleginnen und Kollegen in den baltischen Staaten stark auf ihre jeweiligen nationalen Geschichten konzentrieren. Ein Beispiel: Auf der Karte des Russländischen Imperiums gab es eine Provinz Estland, aber Lettland gab es nicht. Die Grenzen zwischen den Provinzen Estland und Livland liefen nicht entlang der Siedlungsgebiete der Esten und Letten, sondern entlang der Verwaltungsgebiete der Estländischen und Livländischen Ritterschaft. Estnische Forscherinnen und Forscher bemühen sich daher heute immer darum, die vom Staat damals generierten Daten zur Provinz Estland um diejenigen zu ergänzen, die sich auf die nördlichen Distrikte der Provinz Livland bezogen, denn dort lebten Esten. Die estnische Universitätsstadt Tartu und Partnerstadt Lüneburgs war damals Teil Livlands. Auch das lettische und litauische Siedlungsgebiet verteilte sich damals auf mehrere Provinzen, was für die heutige, auf die derzeitigen Grenzen fixierte Forschung durchaus ein methodisches Problem darstellt. Denn die zentrale Politik St. Petersburg dachte nicht in diesen Grenzen.
Damit einher geht die generelle Beobachtung, dass das Interesse an der Geschichte der Ukraine in den baltischen Staaten gering gewesen ist. Auf dem estnischen Büchermarkt z.B. existiert nur die 2018 aus dem Finnischen übersetzte „Geschichte der Ukraine“ von Johannes Remy. Im deutschen Sprachraum, wo das Interesse ebenfalls nie sehr groß war, gab es immerhin schon seit 1994 Andreas Kappelers „Kleine Geschichte der Ukraine“. Darüber hinaus gilt es generell anzumerken, dass wir viel zu wenig wissen über die transnationale Sowjetunion. Zwar ist die UdSSR nie zu einem Schmelztiegel der Nationen geworden, wie es sich die Nationalitätenpolitik des Kremls, getreu der marxistischen Überzeugung vom Absterben der „Nation“, immer mal wieder erträumt hat. Doch gab es im Rahmen der ideologischen Losung der „Völkerfreundschaft“ nie so viele offizielle und private Kontakte zwischen den einzelnen ethnischen Gruppen wie in den „normalen“ Jahren der Sowjetherrschaft unter den Generalsekretären Nikita Chruščev und Leonid Brežnev.
Meine Damen und Herren, ich könnte an dieser Stelle noch weiter ausholen, möchte mich aber auf ein Forschungsdesiderat beschränken, welches der Krieg schmerzlich in Erinnerung gerufen hat: die Alltagsgeschichte der Sowjetzeit. Im August dieses Jahres schrieb eine junge Estin in der Presse über das Phänomen der unterschiedlichen Erinnerung an diese Zeit, die diametral entgegengesetzten Geschichtsbilder von Esten und Russen (diese Kollektivbezeichnungen sind durchaus schwierig, aber ich übernehme sie hier aus dem Artikel). Eine russische Klassenkameradin, die wie die Autorin zu jung war, um die Sowjetzeit selbst erlebt zu haben, habe der Autorin von den Jahren unter sowjetischer Herrschaft vorgeschwärmt. Sie könne das Gerede der Esten von der Okkupation nicht verstehen. Man hätte doch alle Freiheiten genossen und der Lebensstandard in der Estnischen SSR sei um einiges höher als im Rest der Union gewesen. Für die junge Estin kam diese Ansicht wie ein Schock. Wie könne man den Begriff „frei“ auch nur in den Mund nehmen! War man nicht annektiert worden? War es nicht eine brutale Diktatur?
Was hier deutlich wird ist, dass die estnische Erzählung vom Verlust der Unabhängigkeit und einem halben Jahrhundert Unfreiheit den eigenen nicht-estnischen Bürgerinnen und Bürgern keine Anknüpfungspunkte bietet – schließlich hatten sich in „ihrem“ Staat bereits 1917 die den Bolschewiki an die Macht geputscht. Gerade angesichts des derzeitigen Krieges ist das als ein echtes Versäumnis zu bezeichnen, da es einer Integration der Gesellschaft auf der Grundlage gemeinsamer Werte entgegensteht. Dass die privaten Erzählungen estnischer Menschen aus der Sowjetzeit durchaus ähnlich positiv klingen können, wie die der jungen Russin, haben spezielle Untersuchungen ja durchaus ergeben. Was im Kontext der estnischen Nationalgeschichte eine Zeit des Verlusts der Eigenständigkeit war, erscheint im privaten Rückblick zumal auf die 1970er Jahre durchaus als positiv. Übersehen wird dabei oft, dass auch in der russischen Erinnerung Entbehrungen und Gewalterfahrungen unter der Sowjetherrschaft vorkommen. Hier steht jedoch die staatliche Ebene nicht im Mittelpunkt dessen, was erinnert wird. Ein Anknüpfungspotential besteht damit zwischen den beiden Erzählungen, das nur einmal genutzt werden müsste. Gerade auch angesichts der derzeitigen Situation, in der es wieder einmal um Kollektivschuldanklagen geht.
Für die Geschichtswissenschaft ist somit meiner Ansicht nach die Alltagsgeschichte der Sowjetzeit, d.h. die Analyse der Lebensbedingungen aller Einwohner der baltischen Sowjetrepubliken, inklusive der russisch sprechenden Menschen, eine dringende Aufgabe. Hier gilt es unter anderem auch die Erkenntnis der umfangreichen Forschung zur DDR zu berücksichtigen, dass eine Fortschreibung der Entrechtungs- und Unterdrückungsgeschichte durch den Staatssozialismus den Individuen ihre agency, wie es im Wissenschaftssprech heißt, ihre möglichen Initiativräume nimmt. Menschen nutzen die Spielräume, die ihnen geboten werden, auch und grade in einer Diktatur und streben danach, diese auszuweiten. Hier dürften sich auch in den baltischen Sowjetrepubliken die Interessen vieler getroffen haben. Aber während die DDR-Forschung bereits auf der Mikroebene einzelner Betriebe angekommen ist, fehlt es im Baltikum immer noch an derartigen Einzelstudien über die Sowjetzeit. Eine umfassende Aufarbeitung dieser Jahre, die ja bekanntlich im Zentrum der Erinnerungspolitik stehen, könnte das Konfliktpotential der diversen Erinnerungsschichten, das ich gerade angedeutet habe, zumindest einhegen und neu strukturieren.
III.
Meine Damen und Herren, ich komme nun zu meinem letzten Punkt. Wie wird der Krieg Russlands gegen die Ukraine unsere Forschungen beeinflussen, verändern, inspirieren? Damit wage ich natürlich auch einen Blick in die Zukunft, womit Historiker tendenziell eher vorsichtig sein sollten. Angesichts der fortgeschrittenen Zeit werde ich mich auf einige Thesen beschränken. Eines ist uns allerdings allen am 24. Februar schlagartig klargeworden: umfangreiche Archivstudien in Moskau und St. Petersburg wird es in der nächsten Zukunft (und womöglich auch darüber hinaus) nicht geben. Damit dürfte sich die Gefahr verringern, dass wir uns zu sehr auf die Beurteilungen und Ansichten des imperialen Zentrums stützen. Darüber hinaus werden die Überlieferungen in baltischen, kaukasischen, vielleicht auch den mittelasiatischen und bald hoffentlich auch wieder in den ukrainischen Archiven (so sie den Krieg denn überstehen werden) attraktiv.
1) Schon um Putins abenteuerlichen Verdrehungen und Zuspitzungen der Geschichte zu begegnen, werden zukünftig zahlreiche Arbeiten zur russisch-ukrainischen Vergangenheit erscheinen, hoffentlich auch auf Russisch und auch im Baltikum (und nicht nur in Form von Übersetzungen). Auch der Krieg selbst wird aufgearbeitet werden müssen – wie die Wissenschaft allerdings mit der Unmenge an digitaler Information umgehen kann und darf, ist eine enorme methodologische Herausforderung.
2) Fachleute sprechen schon jetzt von einem Diskurs der securitization, der sich in Zukunft noch verstärken wird. Dabei stehen Geopolitik, militärische Stärke und ganz allgemein Konfrontation im Fokus. Vor diesem Hintergrund wird sich die seriöse Geschichtsforschung z.B. mit Russland als Feind bzw. Feindbild befassen, während populärwissenschaftliche Literatur womöglich gern zur Dämonisierung Russlands greifen wird, die ja ihre eigene Tradition hat.
3) Je nach dem, wie die Gremien zusammengesetzt sind, die über Forschungsprojekte entscheiden, wird sich dieser securitization Diskurs auch in der zukünftigen Forschungslandschaft widerspiegeln. Im schlechtesten Fall wäre das ein Rückfall in den Kalten Krieg mit seinen wissenschaftspolitischen Simplifizierungen. Im günstigsten Fall entsteht so ein differenziertes Bild auch der Potentiale der Russländischen Föderation nach 1991. Den Fokus auf Moskau wird diese Forschungsrichtung indes beibehalten.
4) Die Ergebnisse der kulturwissenschaftlich orientierten Geschichtswissenschaft der letzten Dekaden, die, wie angedeutet, sich auch verstärkt um Alltagserfahrungen und den „Eigen-Sinn“ der Bürgerinnen und Bürger in sozialistischen Staaten gekümmert hat (DDR, aber auch UdSSR), dürften vermutlich in den Hintergrund treten. Damit verringern sich auch die Chancen dafür, das eben angedeutete Thema der Alltagsgeschichte im sowjetischen Baltikum näher zu behandeln. Aber wie gesagt, ein entscheidendes Wort haben hier die Kommissionen, die die heiß umkämpften nationalen und europäischen Gelder verteilen.
5) Die Archivsituation wird Forscherinnen und Forscher vermehrt in die Archive an der Peripherie der früheren russischen Imperien führen. Im Idealfall entsteht so ein neuer Forschungsbereich, den ich in einem Diskussionsbeitrag die Transnationalität der Peripherie genannt habe.[2] Erste Forschungsergebnisse liegen in dieser Richtung bereits vor. Der viel zu früh verstorbene litauische Historiker Valdas Invanauskas hat sich mit den Literaturbeziehungen zwischen der Litauischen und der Georgischen SSR befasst. Die estnische Kunsthistorikerin Kädi Talvoja arbeitet zu den baltischen Drei-Länder Biennalen im Bereich der Kunst, die seit den späten sechziger Jahren in den drei baltischen Sowjetrepubliken stattfanden. Der Tartuer Historiker David Beecher spürt einer typisch sowjetischen Männerfreundschaft zwischen dem estnischen Orientalisten Lennart Mäll und dem sowjetischen General und späteren tschetschenischen Separatistenführer Džochar Dudaev nach. Mein Wiener Kollege Lars Fredrik Stöcker untersucht die Wechselwirkungen zwischen der polnischen Solidarność und den baltischen Protestbewegungen in der zweiten Hälfte der 1980er Jahre. Sein Doktorand Kevin Axe diskutiert die Kontakte ungarischer und estnischer Ökonomen vor 1985. Und schließlich bereitet Silke Berndsen aus Halle eine spannende Dissertation zu estnisch-lettisch-litauischen Kontakten in der Brežnev-Zeit vor, die für die trilaterale Kooperation während der Perestroika entscheidend waren.
Wie Sie bemerkt haben werden, verbinde ich mit diesem letzten Punkt große Hoffnungen. Damit würde nicht zuletzt in Reaktion auf die derzeitige Lage, die nach osteuropäischer Solidarität verlangt, ein Bereich untersucht, der von der bisherigen Geschichtsschreibung in ihrer Fokussierung auf das jeweils eigene, Nationale vernachlässigt wurde. Vielleicht kümmern wir uns dann auch endlich einmal um die jeweiligen Beziehungen der baltischen Gesellschaften mit der Ukraine seit dem 19. Jahrhundert. In Tartu wurde bereits 2001 eine Gedenktafel an einem Haus in der Innenstadt angebracht, die an den Aufenthalt r ukrainischen Dichterin Lesja Ukrajinka im Jahre 1900 in der Stadt erinnert, als sie ihren Bruder Mykhailo besuchte, der in Tartu studierte. Die Initiative für die Gedenktafel ging allerdings von ukrainischer Seite aus.
* * *
Damit ist mein Vortrag an sein Ende angelangt. Ich kann jedoch nicht schließen ohne eine persönliche Anmerkung. Dass ich morgen wieder nach Tallinn zurückkehren kann, um das Herbstsemester an der Universität Tallinn unter einigermaßen normalen Umständen fortzusetzen, verdanke ich einzig dem heldenhaften Widerstand aller Menschen in der Ukraine. Slava Ukraine!